Stephan Rieke und Christian von Hiller, Investment Office Private Wealth Management ODDO BHF
Reformen in Deutschland kommen nur langsam voran
Genauso interessant wie das, was Politiker sagen, ist auch das, was sie nicht sagen, oder das, was sie nicht mehr sagen. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft im Frühjahr 2025 hatte Bundeskanzler Friedrich Merz für den Sommer eine Aufhellung der wirtschaftlichen Stimmung versprochen und für die folgenden Monate einen „Herbst der Reformen“. Mitte September beharrte er noch vor dem Bundestag darauf, dass der Herbst der Reformen längst eingeleitet sei. Dieses Schlagwort verwendet Merz seitdem nicht mehr. Das ist auch nicht überraschend, denn in Deutschland Veränderungen herbeizuführen ist offenbar ein zähes Geschäft. Die schwarz-rote Koalition läuft mittlerweile Gefahr, sich in der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung zu verzetteln und darüber andere, wirtschaftlich ebenso wichtige Reformen hintanzustellen.
Dabei wird die Zeit für Reformen knapp. Im Frühjahr 2026 finden zwei wichtige Landtagswahlen statt, am 8. März 2026 in Baden-Württemberg, wo bisher ein grün-schwarzes Bündnis regiert, und am 22. März in Rheinland-Pfalz, wo noch eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die Regierung stellt. Gesetzesvorhaben, die nicht mehr rechtzeitig auf den Weg gebracht werden, drohen in den Wahlkämpfen unterzugehen.
Dabei dürften zwei Einschätzungen Allgemeingut sein: Erstens, die deutsche Wirtschaft muss deutlich an Fahrt gewinnen, wenn sie nicht international den Anschluss verlieren will, und zweitens, der Schlüssel zur notwendigen, dauerhaften Wachstumsbeschleunigung liegt bei der Politik, die eine Erneuerung des deutschen Wirtschaftsmodells vorantreiben muss.
Anfang dieser Woche hat die Europäische Kommission ihre Wachstumsprognose für die kommenden beiden Jahre vorgestellt. Demnach dürfte das Wirtschaftswachstum in Deutschland in diesem Jahr bei 0,2 Prozent stagnieren und sich im kommenden Jahr auf 1,2 Prozent erhöhen. 2027 würde sie etwa bei diesem Wert verharren. Damit bleibt Deutschland unter dem EU-Mittel, das die Kommission für die Jahre 2025 und 2026 mit jeweils 1,4 Prozent ansetzt. 2027 soll es geringfügig auf 1,5 Prozent steigen. Die Wachstumsdynamik hat sich innerhalb der EU in den Süden verlagert. Für Spanien etwa prognostiziert die EU 2,9 Prozent (2025), 2,3 Prozent (2026) und 2,0 Prozent (2027).
Der internationale Vergleich zeigt, wie sehr Deutschland ins Hintertreffen geraten ist. Seit 2015 ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf in Deutschland laut OECD um insgesamt 3 Prozent gestiegen. In den USA betrug der Anstieg dagegen 40 Prozent und im EU-Mittel immerhin noch 12 Prozent. Die Bundesbank schätzt das Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft auf nur noch 0,4 Prozent.1) Das ist 1 Prozentpunkt niedriger als im vergangenen Jahrzehnt und gegenwärtig mehr als 1 Prozentpunkt niedriger als in der EU ohne Deutschland. Das Potenzialwachstum zeigt an, wie stark eine Wirtschaft nachhaltig wachsen kann, unabhängig von kurzfristigen Konjunkturschwankungen. Wichtige Einflussfaktoren sind Produktivität, Erwerbsbeteiligung, Investitionen und technologischer Fortschritt. Ein Potenzialwachstum von schwächlichen 0,4 Prozent pro Jahr bedeutet, dass es praktisch nichts mehr neu zu verteilen gibt: keine realen Lohnzuwächse, keine realen Rentenerhöhungen und keine neuen Sozialleistungen.
Vor der letzten Bundestagswahl fiel eines in den Wahlprogrammen der Parteien auf, die aktuell im Bundestag vertreten sind: Sie alle setzten das Thema Entbürokratisierung ganz weit oben auf ihre politische Agenda. Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzte jüngst, dass ein Arbeitstag pro Woche für die Bewältigung der Bürokratie aufgewandt wird. Wenn es aber konkret darum geht, einzelne Regeln abzuschaffen, kommt der Reformwille schnell ins Stocken. Immerhin hat die Bundesregierung am 1. Oktober eine „Modernisierungsagenda für Staat und Verwaltung“ beschlossen. Diese sieht konkrete Maßnahmen wie die internetbasierte Fahrzeugzulassung, eine Beschleunigung von bürokratischen Verfahren im Bauwesen oder bei der Gründung von Unternehmen vor. Entbürokratisierung ist eben ein mühsames Geschäft, bei dem viele kleinliche Regelungen geprüft werden müssen.
Die großen Streitthemen liegen im Sozialbereich: beim Bürgergeld, der Rentenversicherung, der Migrationspolitik, dem Gesundheitswesen und einer eventuellen Wiedereinführung der Wehrpflicht. Letzteres hätte natürlich auch Auswirkungen auf das Angebot junger Fachkräfte für die Unternehmen. Doch viele Projekte stocken: Die eigentlich schon vereinbarte Reform des Bürgergelds hängt zwischen den Ministerien fest; die Rentenreform stößt auf Widerstand bei der Jungen Union; und das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ende des Heizungsgesetzes verzögert sich, weil sich CDU, CSU und SPD nicht auf neue Regeln einigen können. Dass die schwarz-rote Koalition nur eine Mehrheit von zwölf der 630 Sitze besitzt, macht das Regieren nicht leichter.
Hinzu kommt, dass viele Reformen sich nicht umgehend auf das Wachstum auswirken. So hat sich die Stimmung am Bau im Oktober 2025 ungeachtet des beschlossenen „Bauturbos“ eingetrübt. Und trotz einer Rentenreform, wie immer sie auch aussehen mag, schätzt das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, dass der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung im kommenden Jahr 2026 ein Drittel der Steuereinnahmen ausmachen wird.
Viele Ökonomen beklagen, dass die Reformagenda der verschiedenen Bundesregierungen nicht weit genug geht. Ifo-Präsident Clemens Fuest warnte jüngst vor einem „wirtschaftlichen Niedergang“ Deutschlands.2) Den halten wir allerdings nicht für ausgemacht. Denn ungeachtet dieser düsteren Prognose entwickeln sich viele deutsche Unternehmen sehr dynamisch, vor allem jene, die auf den Weltmärkten zu Hause sind. So hat der Dax der 40 deutschen Standardwerte in den vergangenen zwölf Monaten um 21 Prozent zugelegt und das, obwohl sich beispielsweise die Aktien der Autohersteller Volkswagen und Mercedes unterdurchschnittlich entwickelt haben. Dafür haben Titel wie beispielsweise Rheinmetall, Airbus und Bayer den Index in die Höhe gezogen. In Deutschland finden sich zahlreiche erfolgreiche und expandierende Unternehmen. Es wird Zeit, dass Deutschland ihnen wieder ein Umfeld schafft, um diese Stärken auch auf dem eigenen Platz ausspielen zu können.
Stephan Rieke und Christian von Hiller
1) Deutsche Bundesbank, Deutschland-Prognose: Wachstumsausblick deutlich eingetrübt–Inflation geht zurück auf 2%, Monatsbericht Dezember 2024.
2) Bild am Sonntag: „In Deutschland wächst nur noch der Staat“, 26. Oktober 2025.
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